Barrierefreiheit ist mehr als Rampen für Rollstühle. Es gehören auch Aufzüge und Wegeleitsysteme dazu, ebenso wie Gebärdensprache, Texte in Leichter Sprache und barrierefreies Webdesign. Richtig durchdacht und umgesetzt, kommt Barrierefreiheit allen Menschen zugute, egal ob mit oder ohne Behinderung. Wir sprachen mit Prof. Bernd Kritzmann, Vorsitzender des Hamburger Vereins Barrierefrei Leben, über die wichtigen Details von Barrierefreiheit und die besondere Verantwortung, die Staat und öffentlicher Verwaltung zukommt.
Es hat sich einiges getan. Inzwischen haben rund 90 Prozent der Hamburger U-Bahn-Haltestellen einen Aufzug. Ohne einen solchen Fahrstuhl ist es für Rollstuhlfahrer*innen nur sehr schwer bis gar nicht möglich, diesen Teil des öffentlichen Nahverkehrs zu nutzen. „Das wurde schon vor 15 Jahren diskutiert, war damals aber undenkbar. Jetzt wird das Geld investiert“, sagt Professor Bernd Kritzmann, Architekt und Vorsitzender des Vereins Barrierefrei Leben in Hamburg. Der Verein berät Behörden, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, aber auch Privatpersonen bei Fragen der Barrierefreiheit.
Barrierefreiheit nützt jungen Familien und Menschen mit Behinderungen
Die Einrichtung der Fahrstühle habe einen spannenden Nebeneffekt für den Öffentlichen Nahverkehr gehabt, erzählt Kritzmann. Eine neue Gruppe von Kunden konnte gewonnen werden, nämlich Familien mit kleinen Kindern im Kinderwagen-Alter. Diese Menschen können die Fahrstühle natürlich ebenso nutzen wie die Rollstuhlfahrer*innen. „Das ist auch ein Kennzeichen von Barrierefreiheit: Im Endeffekt nützt sie nicht nur einzelnen Gruppen, sondern der Gesamtheit aller Menschen“, sagt Kritzmann. Denn jeder sei irgendwann einmal eingeschränkt. Sei es dadurch, dass er sich verletzt und ein gebrochenes Bein hat, oder dass er oder sie Stufen auf einer Treppe nicht mehr so gut wahrnehmen kann. Oder eben durch einen Kinderwagen, den man durch die Gegend schieben muss.
Der öffentliche Dienst als Vorbild
Eine besondere Verantwortung bei der Barrierefreiheit kommt der öffentlichen Hand zu. Sie hat zum einen Vorbildfunktion, ist aber auch durch die UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, bauliche, kommunikative und strukturelle Barrieren abzubauen. So muss sie nach Artikel 9 der Konvention geeignete Maßnahmen treffen, um für Menschen mit Behinderung den Zugang „zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, zu Information und Kommunikation [...] gewährleisten“. Das gleiche gilt auch für „andere Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen oder für sie bereit gestellt werden“.
Für den öffentlichen Dienst hat Barrierefreiheit aber auch darüber hinaus ganz handfeste Vorteile, denn es ist absehbar, dass zukünftig immer mehr ältere Mitarbeiter*innen beschäftigt werden. „Die Verwaltung kann wichtige Weichen stellen, diesen Menschen über Barrierefreiheit eine Chance zu bieten, weiter im Beruf zu bleiben“, sagt Bernd Kritzmann.
Worauf es bei Barrierefreiheit ankommt
Manchmal sind es nur Details, die allerdings für Betroffene ein unüberwindbares Hindernis darstellen können. Als Beispiel nennt Bernd Kritzmann die Öffnungsrichtung von Türen. Wenn diese sich in der Behörde nur nach außen öffnen lassen, haben Rollstuhlfahrer*innen damit Schwierigkeiten. Sie müssen erst an den Türknauf heranfahren und dann rückwärts mit dem Knauf in der Hand zurückfahren. Ebenso schwierig wird es, wenn im Innenraum nicht genügend Platz ist und der Türspalt eng. Der Platz reicht dann nicht, den Rollstuhl zu navigieren.
Ein weiterer Punkt sind Toiletten. Diese seien inzwischen häufig geräumig genug, sagt Bernd Kritzmann. „Vom Prinzip könnte man hier allerdings auch mitdenken, dass es Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen mit unterschiedlichen Anforderungen gibt. Je nachdem ist es für diese einfacher, die Toilette von rechts oder von links anzufahren.“
Bessere Orientierung durch Farbe
Die Barrierefreiheit kann sich auch in der grundsätzlichen Gestaltung von Räumlichkeiten darstellen. Man kann und sollte etwa mit farblichen Abstufungen arbeiten. Räume, die komplett in der gleichen Farbe gestaltet sind, werden als unangenehm empfunden. Treppenstufen farblich zu markieren, hilft vielen Menschen, sich besser zu orientieren. Manche alten Räume hallen auch sehr, so dass es sehr laut ist und es schwerfällt, sich zu konzentrieren. Für Bernd Kritzmann zeigt sich: Was im Sinne der Barrierefreiheit wichtig ist, zahlt sich letztendlich für alle aus.
Barrierefreiheit und Denkmalschutz
Manchmal lassen sich bestimmte Dinge aber auch nicht ändern. „In Hamburg sind fast alle Bauten der öffentlichen Verwaltung älter. In den 1950er Jahren war aber Barrierefreiheit überhaupt kein Thema“, sagt Bernd Kritzmann. Die baulichen Rahmenbedingungen sind nicht immer gegeben, um auch alles umzusetzen, was sinnvoll ist. Eine weitere Herausforderung ist der Denkmalschutz, der Änderungen immer nur in einem bestimmten Maße zulässt. „Da muss man manchmal auch kreativ sein“, sagt Kritzmann.
In Neubauten könne Barrierefreiheit gleich von Anfang an mitgedacht werden. Und wenn noch kein Geld für bestimmte Maßnahmen vorhanden sei, könne man zumindest schon einmal alles baulich so vorbereiten, dass es im Nachhinein leichter ist, Maßnahmen für die Barrierefreiheit zu ergreifen.
Für Barrierefreiheit muss man sensiblisieren
Wichtig sei es, dass die Verantwortlichen eine Sensibilität für das Thema entwickeln, betont Bernd Kritzmann. Es gehe nicht darum, mit der Gewerkschaft oder einen Beauftragten durch die Räume zu gehen und mit dem Finger auf die Missstände zu zeigen. Es brauche einen Dialog. „Ich höre oft den Einwand, dass man „für den einen“ jetzt einen so großen Aufwand macht.“ Diese Diskussion habe er auch früher mit seinem ehemaligen Präsidenten an der Hochschule geführt. Bis zu dem Zeitpunkt, als dieser sich selbst mal den Fuß verstauchte. „Danach hat er verstanden, was ich meinte“, sagt Kritzmann.
Henning Zander